Schriftsteller und Beobachter
Waldemar Gruna: Ist es so, dass sich nur Deutschland abschafft? Oder muss man sagen, dass sich ganz Westeuropa abschafft, weil die gesellschaftlich-demografischen Tendenzen, die Sie in Ihrem Buch schildern, auch in anderen Ländern unseres Kontinents zu beobachten sind? Dieses kulturell-religiöse Problem (Europa als christliche Wertegemeinschaft) war auch in Polen an der Tagesordnung als die EU-Osterweiterung vollzogen wurde. Westeuropa reagierte damals mit Unverständnis. Warum werden die sozialen Probleme Europas und die Integrationsschwierigkeiten islamischer Immigranten erneut zu einem wichtigen Gesprächsthema? Ist die Wirtschaftskrise dabei die treibende Kraft? Fühlen Sie sich nicht an Oriana Fallacci erinnert, die vor einigen Jahren für ihr Engagement für europäische Grundwerte heftig kritisiert wurde?
Thilo Sarrazin: Viele Aussagen meines Buches betreffen auch andere europäische Länder. Die Geburtenarmut vieler Länder wie auch der hohe Anteil von Einwanderern aus der Türkei, Afrika, Nah- und Mittelost haben aber mit der Wirtschaftskrise nichts zu tun. Oriana Fallaci hat als eine der ersten in starken Worten auf viele der Probleme hingewiesen, die auch ich schildere. Dafür musste sie ungerechte und gehässige Kritik erfahren.
Waldemar Gruna: Europäische Politiker haben unter dem Vorwand der political correctness und Toleranz jahrelang den Lebensstil moslemischer Immigranten hingenommen und ihn als „unterschiedliche Kulturvorstellungen“ gerechtfertigt. Auch die Medien haben einen Teil dazu beigetragen, indem sie Integrationsprobleme selten zur Sprache brachten. Es scheint, dass diese zwei Gruppen auch jetzt noch versuchen, die Realität zu beeinflussen, kehren einige Tatsachen und soziale Probleme einfach unter den Teppich und verunglimpfen Sie fast wie einen neuen Hitler. Wie fühlen Sie sich als Mensch? Tut es Ihnen Leid oder bereuen Sie, dass Sie das Buch veröffentlicht haben?
Thilo Sarrazin: Mein Buch ist gründlich recherchiert und sorgfältig formuliert. Ich habe dort eine maßvolle Sprach und beleidige niemanden. Versuche zur Diffamierung, die es gibt, fallen auf ihre Urheber zurück. Ich bereue weder das Buch noch die darin enthaltenen Aussagen.
Beata Steć: Was war ausschlaggebend dafür, dass Sie sich entschieden haben ihren Unmut über die deutsche Politik gerade in dieser Form (Buchveröffentlichung) kund zu tun? Hatten Sie in Ihrem politischen Amt keinen Einfluss auf die Gesetzgebung in Bezug auf Einwanderer und die Einwanderungspolitik? Ist es ein Anzeichen von Hilflosigkeit, dass Sie nun die Seiten gewechselt haben und nicht mehr als Politiker, sondern als Schriftsteller und Beobachter agieren?
Thilo Sarrazin: In einem politischen Amt muss man die Grenzen des jeweiligen Amtes respektieren. Als Finanzsenator von Berlin hatte ich sicherlich viel Einfluss, aber der reichte nicht bis zur Sozialgesetzgebung und Einwanderungspolitik der Bundesrepublik. Das Buch gab mir die Möglichkeit, viele Dinge im Zusammenhang darzustellen, die ich so in einem politischen Amt niemals hätte sagen können. Außerdem unterschätze man nicht den Einfluss von Schriftstellern und Beobachtern. Ich will mich nicht in zu große Schuhe stellen, deshalb hinkt der nachfoigende Vergleich: Aber sicherlich hatten Karl Marx oder Solschenyzin als Schriftsteller und Beobachter Einfluss auf die politische Entwicklung.