Ein Gegenmittel schlimmer als die Krankheit!
Waldemar Gruna: Welche waren die erheblichtsten Fehler, die zur Krise führten?
Prof. Leszek Balcerowicz: Erstens zu niedrige Leitzinsen seit 2003 zunächst in den Vereinigten Staaten und dann in anderen Ländern. Wenn die Zinssätze niedrig sind, steigt die Zahl der eingeräumten Kredite stark an, was in einigen Staaten zu übermäßig hohen Preissteigerungen im Immobiliensektor führte. Es entstand eine "Blase" im Immobilienmarkt, die schließlich platzte. In den Vereinigten Staaten gab es auch politischen Druck auf die Finanzinstitutionen, damit diese Immobilienkredite an Kreditnehmer mit niedriger Bonität vergeben. Auch in Westeuropa, in Staaten wie Großbritannien, Irland oder Spanien, bildeten sich große Immobilienblasen, weil dort die Nachfrage nach Immobilienkrediten durch Steuererleichterungen angeregt wurde. In Irland und Großbritannien war zusätzlich durch eine zu lasche Haushaltspolitik eine noch stärkere Nachfrage zu beobachten. Diese Regierungsfehler der einzelnen Länder, besonders der Vereinigten Staaten, verknüpften sich mit Fehlern einiger Finanzstrukturen, was schließlich die derzeitigen Probleme zur Folge hatte. Doch die derzeitige Krise ist mit der aus den 1930er Jahren nicht vergleichbar. Damals fiel das Bruttoinlandprodukt der USA um 30%, jetzt sank das BIP jedoch nur um ca. 3%.
Waldemar Gruna: Die Stärke der deutschen Wirtschaft beruht auf dem Export (bis vor Kurzem noch Exportweltmeister). Doch auch die deutsche Wirtschaft steckt in der Krise. In der Praxis greift man auf Protektionismus zurück. Ist das der Richtige Weg aus der Krise?
Prof. Leszek Balcerowicz: In Deutschland muss man ebenso wie in anderen Ländern auch zunächst die Ursachen der Krise eingrenzen und dann nach Lösungen suchen. Einige Reformen wurden bereits unter Schröder auf den Weg gebracht. Das waren wirkliche Reformen, die den Deutschen halfen zumindest einige Haushaltsprobleme ansatzweise zu lösen. Die steigende strukturelle Arbeitslosigkeit konnte eingedämmt werden. Ich denke, dass Deutschland diese Strategie weiter verfolgen sollte. Der deutsche Export und die Spezialisierung auf den Export von Investitionsgütern verstärken jetzt die wirtschaftlichen Probleme. Da der Import vor allem von Investitionsgütern sinkt, wirkt sich das negativ auf die deutsche Wirtschaft aus, doch der Gesamtmarkt ist in keiner so schlechten Verfassung. Die Spezialisierung auf den Export sorgte jahrelang für große Erfolge der deutschen Wirtschaft. Was den Protektionismus betrifft, so muss man sagen, dass einer der größten Fehler, den man in den 1930er Jahren beging, die Verabreichung eines Gegenmittels war, das schlimmer als die Krankheit selbst gewesen ist: die Mauer des Protektionismus. Das führte zur großen Depression. Jetzt ist es sehr wichtig, diesen Fehler nicht noch einmal zu begehen. Ich hoffe, dass die Deklarationen der Staatsoberhäupter der G20 sich nicht als leere Floskeln erweisen. Die weltweite öffentliche Meinung muss hierbei sehr wachsam bleiben. In der Demokratie reagieren Politiker generell sehr empfindlich auf Signale aus ihren Bevölkerungen. Im Rahmen der Zivilgesellschaft müssen nun all jene aktiv werden, die daran glauben, dass der freie Markt Grundlage für Wirtschaftswachstum ist und nicht Zollschranken und steigende Sozialausgaben.
Waldemar Gruna: Wurde das bahnbrechende Vorhaben der Einführung der Marktwirtschaft in Polen – auch bekannt als "Balcerowicz-Plan" – vollständig umgesetzt? Es gibt Meinungen, wonach es in Polen nur am Anfang der Wende einen wirklich "freien Markt" gab. Haben Politiker nicht das zu Grunde gerichtet, was die polnische Bevölkerung Anfang der 1990er Jahre eindeutig forderte?
Prof. Leszek Balcerowicz: Polen war das erste Land, das eine so radikale Wende von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft vollzog. Wir haben den Weg für andere Staaten und Gesellschaften frei gemacht. Wir konnten auf keinen früheren Erfahrungen aufbauen, weil es diese nicht gab. Ich interessierte mich schon seit den 1970er Jahren für Wirtschaftsreformen und gründete daher damals eine informelle Gruppe junger Ökonomen, die sich mit dieser Frage befassten. Wir haben diese Arbeit in den 1980er Jahren fortgesetzt, ohne zu ahnen, dass Polen bald ein freies Land werden würde. Durch Zufall waren wir somit intellektuell auf Reformen vorbereitet – wir wussten durch unsere Arbeit, was man generell ändern müsste. Wir mussten die verlorene Zeit nachholen und sich schneller als der Westen entwickeln. Nach 20 Jahren sieht man, dass wir das höchste BIP-Wachstum aller post-kommunistischen Ländern erreicht haben und Westeuropa zumindest ein wenig einholen konnten. Vor 1989 hatten wir lediglich 30% des Lebensstandards der 15-Eu-Staaten, jetzt haben wir etwas über 50% erreicht. Das bedeutet nicht, dass alle Reformen durchgeführt werden konnten. In Polen müssen die Steuern gesenkt werden, deswegen ist es notwendig die Haushaltsausgaben zu kürzen. Wir brauchen bessere Vorschriften und das bedeutet, dass wir wählen müssen, um eine bessere Legislative zu haben, denn Vorschriften kommen nicht aus dem Nichts. Schlechte Vorschriften werden von jenen geschaffen, die in einer Demokratie gewählt werden. Wenn wir gute Gesetze haben wollen, die die Wirtschaft nicht einschränken, muss die Bevölkerung an Wahlen teilnehmen und vernünftig wählen. Das können keine technokratischen Maßnahmen ersetzen. In einer Demokratie herrscht die Regel, dass man sich seine Bedingungen selbst schafft.
Waldemar Gruna: Hat die EU, deren Grundlagen ursprünglich in einem Wirtschaftszusammenschluss lagen, nicht die Schwelle zu einem ideologischen Zusammenschluss überschritten?
Prof. Leszek Balcerowicz: Ein großer Erfolg der EU ist die Bildung eines gemeinsamen Binnenmarktes, also die Etablierung von vier Freiheiten. Das ist nicht nur ein wirtschaftlicher Erfolg. Es ist ja schon lange bekannt, dass je größer der freie Markt ist, desto größer sind auch die Wachstumsmöglichkeiten. Der Grand der Spezialisierung ist höher und die Konkurrenz ist stärker. Das ist überaus wichtig, denn Wirtschaftsbeziehungen haben auch zwischenmenschliche Aspekte. Dank ihnen kommen sich Menschen näher. Je mehr Handelsbeziehungen es gibt, desto stabiler ist der Frieden. Das ist auch von großer politischer Bedeutung. Das muss man wie einen Augapfel hüten und den freien Markt in Europa vollständig etablieren. Die Liberalisierung der Dienstleistungsvorschriften ist noch nicht abgeschlossen. Die Dienstleistungsrichtlinie war in der ersten Fassung von Fritz Bölkenstein viel radikaler, als die, die letztendlich beschlossen wurde. Das darf aber nicht das Ende sein, hier ist wieder die öffentliche Meinung gefragt. Das ist nicht nur für die Wirtschaft von fundamentaler Bedeutung sondern auch für den sozialen Zusammenhalt. Leider ergreift die Europäische Union auch Initiativen, die kaum durch Analysen begründet und daher ideologisch geprägt sind. Wenn man unter Ideologie etwas versteht, das durch keine Analysen begründet ist, dann erkenne ich tatsächlich solche Elemente. Dazu zähle ich vor allem Umweltinitiativen der EU die dazu dienen sollen, die globale Klimaerwärmung zu bekämpfen. Die EU hat den "3 mal 20" Beschluss gefasst, der wirtschaftlich nicht nachvollziehbar ist. Mir sind keine Analysen bekannt, aus denen hervorgehen würde, dass es ausgerechnet "3 mal 20" sein muss. Die EU hat ähnlich wie die USA beschlossen Biokraftstoffe zu fördern, ohne die Wirtschaftlichkeit des Vorhabens zu prüfen. Später stellte sich heraus, dass es sehr kostspielig ist und der Umwelt nicht hilft sondern eher schadet, weil die Lebensmittelpreise steigen. Und jetzt? Hat man das korrigiert? Nach meinem Wissen nein. Man muss versuchen Entscheidungen zu verhindern, die nicht auf fundierten Analysen beruhen und unter dem Einfluss verschiedener Kräfte oder bestimmter nicht empirischer Präferenzen gefällt werden. Man darf nicht vergessen, dass es Konzerne gibt, die an der Bekämpfung der globalen Klimaerwärmung sehr interessiert sind, z.B. Unternehmen, die Atomreaktoren herstellen.
Prof. Leszek Balcerowicz (63) war u.a. Vizepremier und Finanzminister in der ersten nicht-kommunistischen Regierung von Tadeusz Mazowiecki. In den Jahren 2001-2007 war er Vorsitzender der Polnischen Nationalbank. Balcerowicz war Urheber einer schnellen Stabilisierung und Umwandlung der in der Wirtschaftskrise verharrenden polnischen Wirtschaft – bekannt als "Balcerowicz Plan".